Dass Heiraten politisch ist beziehungsweise sein kann, je nach Stand und Vermögen, ist eine alte Gschicht. Maggie O’Farrell zeigt diese Art von politischem Agieren auf, der junge Mädchen von Adel und/oder Königshaus oft gnadenlos zum Opfer fielen. Eindrücklich zieht die Autorin die Lebenslinie ihrer Figur nach. Die 15jährige Lucrezia de’ Medici, Tochter aus wohlhabendem adeligen Hause, 1545 in Florenz geboren, 1558 mit dem Herzog von Modena und Ferrara, Alfonso II d’Este verheiratet, starb im Alter von 16 Jahren 1561 in Ferrara, mutmaßlich von ihrem Gatten selbst oder in seinem Auftrag ermordet, weil keine Kinder kamen.
Maggie O’Farrell bedient sich vorwiegend des Stilmittels der Innenschau. Das junge Mädchen erzählt uns seine Geschichte. Freilich ist die Sicht der Protagonistin sehr begrenzt, was wir und im Roman Lucrezia sogar selbst, zu der wenige Nachrichten aus der Außenwelt dringen, weil sie abgeschirmt und ohne Außenkontakt hinter dicken Mauern lebt, bedauern. Sehr bedauern! Denn die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts ist eine spannende Zeit. Wer regiert wo in der Welt, welches sind die lokalen und globalen Konflikte, was bewegt den Erdkreis, welches sind die theologisch-philosophischen Fragen der Zeit, wie ist der Stand der Künste und der Wissenschaften, Krieg und Frieden, dies alles muss zumindest teilweise in einen historischen Roman einfließen. Von all dem findet sich quasi nichts in Maggie O’Farrells Roman. Dagegen jede Menge Befindlichkeiten und Äusserlichkeiten- bis zum letzten Faltenwurf der Gewänder.
Da das Schicksal Lucrezia de’ Medicis jedoch kein Einzelfall gewesen ist, sondern beispielhaft dafür steht wie die Töchter aus den Adels- und Königshäusern im Dienst ihrer Familie oder der Krone, reihenweise gewissenlos verschachert wurden, macht den Roman gerade noch verzeihbar und erträglich. Vielleicht steht er insoweit sogar ein bisschen im Dienste des Feminismus. Denn es ist bis heute unfassbar, was man Frauen antut und angetan hat, aus keinem anderen Grund als dem, dass sie eben Frauen sind. Der Hass auf Frauen beziehungsweise deren Geringschätzung schlägt einem aus der Geschichte immer wieder lodernd entgegen. Anderseits ist diese Art der Heiratspraxis der Herrschenden überhaupt nichts Neues. Das bekannteste Exempel dürfte Marie-Antoinette sein.
So erfährt man nichts Neues. Auch ist es nicht Lucrezia di Medici, die lebendig geworden wäre, sondern, da die Quellenlage mehr als dürftig ist, ist sie nur ein nacktes Tableau: Lukrezia di Medici gibt einen Rahmen ab, in den hinein Maggie O’Farrell eine völlig neue Figur füllt, eine imaginierte, die es nie gegeben hat. Da nicht überprüfbar, darf Maggie O’Farrell ihre überschiessende Phantasie ungestraft an Lukretia di Medici austoben. Immerhin agiert die Autorin wohlwollend und wertschätzend.
Nun sind die großen literarischen Figuren zwar allesamt bloß erfunden und bilden trotzdem ein Stück Wirklichkeit ab. So ist es natürlich auch bei dem geschilderten Ehe-Porträt von Maggie O‘Farrell. Doch von einem historischen Roman erwarte ich wesentlich mehr Zeitgeschehen und will nicht mit reiner Befindlichkeit abgespeist werden, zumal die Autorin, die wenigen Eckdaten, die sie in ihre Geschichte einfließen lässt, und das sind wahrlich nicht viele, auch noch literarisch verarbeitet, insoweit gefälscht, oder sagen wir einmal so, passend zurecht gebogen hat.
Fazit: Reichlich imaginierte Innenschau von empirischer Länge, kaum historische Fakten. Für einen historischen Roman ist mir dies bei aller Einfühlsamkeit zu wenig. Gelesen wird das Hörbuch von Heike Warmuth jedoch auf einem so hohen Niveau, dass man fast die magere Handlung und die weitgehend vernachlässigte Anbindung an die Historizität vergessen könnte.
Kategorie: Historischer Roman
Hörbuch-Verlag Hamburg, 2022